Männerumkleide ein Mysterium

NW P20 Spezielles

Mysterium Männerumkleide

Die Männerumkleide ist ein Ort von merkwürdiger Magie und Mystik. Klar, es gibt Räume im Bonner Ruderverein, die besser riechen, die eine schönere Aussicht bieten und sich baulich in einem noch anspruchsvolleren Zustand befinden.

Orte, die bedeutende Teile der Menschheit ausschließen, haben aber immer einen gewissen Reiz. Für alle, die drin sind – und für die, die draußen rätseln, was sich innen abspielen mag? Wer nun glaubt, die Männerumkleide sei ein Hort frauenverachtender Dummbeuteleien, die irrt. Vermutlich alle Insassen dieser Umkleide sind tiefsten Herzens Liebhaber und Verehrer der Damen. Daher fällt dort kein böses Wort über die bessere Hälfte der Menschheit. Die Männerwelt hat hier Wichtigeres zu tun. Sie hinterfragt und reflektiert sich hier nämlich höchstselbst.

Schwerelosigkeit und Selbstreflexion

Wie das? In dem Moment, in dem der Mann sich hier seiner Kleider entledigt, entledigt er sich aller Zwangsrollen und Zumutungen der wirklichen Welt. Er löst sich von seiner irdischen Hülle – und landet dadurch in einer Art Nirwana: Äußerlichkeiten und Hierarchien sind aufgehoben. Es beginnt ein Zustand der Leichtigkeit, der Uneigentlichkeit, des Versuchs: Es wird schwerelos gealbert, gefoppt, ironisiert, improvisiert, provoziert und manchmal auch verbal gerüpelt.

Nahezu einziges Thema sind die Schwächen und Blößen der anderen (Männer). Das Zuspätkommen, der hängende Bauch, die zerknitterte Erscheinung, die Unvollständigkeit der Ausrüstung, die knaatschbunten Sneaker, die Ringe unter den Augen, das karierte Holzfällerhemd, aber vor allem natürlich ruderische Schwächen und Pannen: Wer ewig für eine Strecke braucht, wer in einem Boot mit mikadoartiger Synchronisation saß, wer Bootsinsassen/innen hatte, die man lieber auf die andere Rheinseite verwünschen würde, wer gar (worst case!) überholt wurde – der wird mit Sicherheit zur Zielscheibe des mehr oder weniger geistreichen Spottes. Das alles kann kaum verletzten. Denn jeder weiß: Die Konstellation des Spottes ist morgen schon wieder eine andere. Was hier gesagt wird, dringt kaum nach außen. Wir lachen immer auch über uns selbst. Und alle sind in einer Art unzurechnungsfähigem Zustand.

Es foppen sich sogar – oder vielleicht sogar besonders – diejenigen, die sich eigentlich gar nicht mögen. Das unbeholfen-provozierende Geschwafel erzeugt in der Umkleide eine vertrauliche Atmosphäre unter allen, die sich hier auf etwas herbe Weise sehr, ein bisschen oder auch gar nicht mögen. Womit bewiesen wäre, dass man kommunizieren kann, ohne übermäßig viel zu reden, ohne irgendwas Ernsthaftes oder gar Freundliches zu sagen.

 Letzte Gewissheiten und Leihgaben

Zugleich bietet die Männerumkleide aber auch ein Höchstmaß an Halt und Ruhe, eine Art höhere Ordnung und letzte Gewissheit. Wer sich wo umzieht, das ist so fest gefügt, wie das Flussbett des Rheins und die Lage der Kribben. Letztlich ist diese festgefügte Ordnung sehr hilfreich. Du weißt, wohin du bei aller Orientierungslosigkeit deine Tasche feuern kannst.

Dann geht die Sucherei ja ohnehin los. Hose, Hemd, Handtuch, Mütze oder Ruderhandschuhe – irgendwas Wichtiges fehlt auf jeden Fall! Das macht aber nichts. Durch eine höhere Form von Desorganisation haben nämlich die Mitruderer die fehlenden Ausrüstungsgegenstände dabei und stellen sie unkompliziert zur Verfügung. Diese Ersatzobjekte entbehren allerdings bereits jeder Form und stammen in der Regel aus der Schülerzeit der freundlichen Leihgeber, also aus den 1970er oder allenfalls 1980er Jahren – und sehen aus wie Kleidungsstücke von Sam Hawkens oder Tante Droll (Info für die Damen: es handelt sich um wunderbar exzentrische und abgerissen-kurios gekleidete Figuren aus der Männer-Welt von Karl May). Die desaströsen Leihgaben genügen aber vollkommen, um aufs Wasser zu kommen. Und darum geht es ja hier letztlich – und nicht ums Aussehen. Denn definitiv jeder, der diese heiligen Hallen verlässt, sieht ja irgendwie absonderlich und genialisch verpeilt aus.

 Sedimente verflossener Zeiten

Das alles sind relativ einfache Erscheinungen im Vergleich zu dem, was sich in den Spinden abspielt. Denn im Spind hat der Mann die letzten Kubikzentimeter Freiheit auf dieser Welt. Hier hier redet niemand rein! Folglich häuft sich dort sinnlos auf, was dem Mann in seinem Rudererdasein in die Quere kommt, ihn verunsichert und überfordert – oder irgendwann einfach egal wird: Werkzeug, Shampoo, Ersatzteile, alte Schuhe, rätselhafte Überbleibsel von Wanderfahrten, einzelne Socken, Zeugnisse unvollendeter Vorhaben, sinnlose Souvenirs, Regatta-Trophäen (gern auch stapelweise), verblichene Kappen.

Der Spind ist Ort von zeitloser Ruhe, ein Mikrokosmos, in dem die Hast und die Hektik der Gegenwart vollständig ausgebremst sind. Daher können dort die Dinge und Erinnerungen gemächlich absinken und sich langsam verfestigen. Nach dem Kompost-Prinzip wächst aus Unrat und Unordnung etwas sinnvolles Neues heran! Wer genug Geduld hat, kann im Spind komplexe Strukturen und Sedimentsformationen erzeugen. Wenn man diese leicht verhärteten Objektschichten dann 20, 30 oder 40 Jahre später behutsam abträgt, vermag man Zeugnisse eines längst vergangenen Lebens entschlüsseln.

„Die Suche nach der verlorenen Zeit“ heißen die berühmten Aufzeichnungen von Marcel Proust, in denen versucht hat, seine Erinnerungen auf Papier zu fixieren. Er benötigte dafür 5.283 Romanseiten und sieben dickleibige Bände. Der gemeine Ruderer vermag ein vergleichbares Erinnerungswerk mit etwas Nachlässigkeit in wenigen Jahren und Jahrzehnten beiläufig auf der geringen Fläche eines einfachen Metallspindes zu ver- und erdichten.

So etwas vermögen vor allem Geisteswissenschaftler – und natürlich Geologen. Die Ingenieure und Naturwissenschaftler basteln und optimieren selbstredend ganz anders in ihrem Spind herum. Sie bauen mit vor Freude rotglühenden Bäckchen dreiteilige Ikea-Ordnungs-Tools in das wehrlose Raumgefüge ein. Sogar Juristen, zwischen komplexem Denken und Ordnungssinn haltlos hin und her gerissen, sind schon glücklich putzend bei der Installation einer solchen Orientierungshilfe beobachtet worden. Als ob man durch eine schlichte Dreiteilung die Entropie aufhalten könnte?

Auf der anderen Seite …

So – vergleichsweise – luftig geordnet und hygienisch einwandfrei (wie bei den Ingenieuren und Juristen) stellen wir uns im Übrigen auch die Damenumkleide vor: die Kommunikation, die Raum-Ordnung und die Spinde. Vielleicht jeweils ergänzt mit einer schönen, jahreszeitlich inspirierten und daher recht originellen Dekoration? Oder ist es dort doch vielleicht doch ganz anders? Mann weiß das ja alles nicht!

Detlef Stender

Bonner Ruder-Verein von 1882 e.V.

Ob die neue Männerumkleide - Bild unten - wieder ein Mysterium wird, mag im Moment bezweifelt werden, dafür scheint der Umbau zu gelungen. Herzlichen Dank an Detlef Stender vom Bonner RV für seinen feinsinnigen, gelungenen Artikel, der bei vielen sicherlich heimatliche Gefühle oder Erinnerungen wecken dürfte.

veröffentlicht am Sonntag, 4. Oktober 2020 um 20:34; erstellt von Hummels, Wilhelm
letzte Änderung: 04.10.20 21:54

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